Es ist Zeit für Empörung. Der Bundestag hat beschlossen, dass Einwohnermeldeämter in Zukunft Adressdaten unter anderem auch an Werbefirmen und Adresshändler verkaufen dürfen. Zwar gibt es in dem Gesetz die Möglichkeit, der Weitergabe zu widersprechen. Das gilt jedoch ausdrücklich nicht für Berichtigungen oder Bestätigung der Daten. Heißt also: Wenn die Adresshandelsgesellschaft Immerfies GmbH beim Meldeamt der Stadt Kiel anfragt und sagt „Hier, dieser Jörn Schaar, wohnt der immer noch bei Euch?“ dann darf das Amt trotz meines Widerspruchs sagen „Jawoll, die Adressdaten, die ihr von ihm habt, stimmen noch“ bzw. dürfen sie in etwa sechs Wochen sagen „Nee, Leute, der wohnt jetzt in Heide in der sowieso-Straße“.
Das allein ist eigentlich schon Skandal genug. Jetzt wurde allerdings bekannt, dass über diesen Gesetzentwurf im Bundestag kurz nach Anpfiff des EM-Spiels Deutschland gegen Italien abgestimmt wurde und dass dabei nur eine handvoll Abgeordneter anwesend war. Wie wenige Abgeordnete dabei anwesend waren und wie schnell und nebensächlich dieser tiefe, tiefe Eingriff in den Datenschutz behandelt wurde, zeigt dieses Video der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs:
In 57 Sekunden verkaufen 26 von 622 Abgeordneten den Datenschutz. Insofern ist das wutschnaubende Gepolter von SPD-Chef Gabriel fast noch lächerlicher. Wäre die Opposition bei dieser Entscheidung mit ausreichend vielen Abgeordneten aufgelaufen, dann müsste jetzt nicht gezetert werden, das dieses Gesetz so nicht durchkommen darf. Dass es nicht durch den Bundesrat kommen darf, ist in meinen Augen unstrittig. Die SPD aber hätte es schon im Bundestag verhindern können.
Das allerdings bringt mich zu einer anderen Frage: Kürzlich hatten wir den Fall, dass eine Sitzung des Bundestages abgebrochen werden musste, weil nicht genügend Abgeordnete da waren und der Bundestag nicht beschlussfähig war. Wieso ist der Bundestag beschlussfähig, wenn an diesem Tag nur ein Bruchteil der Volksvertreter auf das Fußballspiel verzichten und sich ihren Pflichten widmen? Wie kann das sein?
Ich vermute: Die Beschlussfähigkeit hängt auch davon ab, in welchem Verhältnis die Fraktionen vertreten sind und ob die Zahl der Abgeordneten die Mehrheitsverhältnisse widerspiegelt. Pairing-Abkommen zwischen den Parteienkannte ich bislang nur aus dem SH-Landtag und da auch nur dank des Landesblogs. Diese Absprachen sichern zwar die Mehrheiten der Parteien, führen aber in meinen Augen das ganze System Bundestag ab absurdum. Wenn 26 Abgeordnete reichen, um ein so weitreichendes Gesetz zu beschließen, dann können wir uns die restlichen rund 600 ja wohl auch sparen. In diesem Fall dann auch gleich die Bundes- und Landesbeauftragten für den Datenschutz, denn die stehen ja ohnehin nur im Weg.
Update: Ich habe die Frage nach der Beschlussfähigkeit via Twitter an die stellvertretende Bundestagspräsidentin Petra Pau gestellt. Außerdem hat jemand namens Kine ihr, dem Bundestagspräsidenten Lammert und den Fraktionen des Bundestages eine Email mit der gleichen Frage geschickt. Inzwischen wurde ich aber auch schon auf die Geschäftsordnung des Bundestages aufmerksam gemacht, in der es unter „Beschlussfähigkeit“ heißt:
Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Vor Beginn der Abstimmung kann die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf Prozent der Abgeordneten angezweifelt werden. Wird sie auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit durch Zählen der Stimmen festzustellen. Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen dabei mit.
Ist der Bundestag beschlussunfähig, hebt der Sitzungspräsident die Sitzung auf. Ein Verlangen auf namentliche Abstimmung bleibt jedoch in Kraft.
Also war es noch nicht einmal Pairing, sondern wir folgen dem alten Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“. Dann ist die Frage nach der Beschlussfähigkeit also nur dann interessant, wenn es einer der Parteien (im Sinne von Regierung(skoalition) oder Opposition) nutzt. Hier schließt sich also der Kreis zum Titel dieses Blogeintrags.
Das war ja der große Aufreger neulich, weil die Beschlussfähigkeit über die Krücke des Hammelsprungs negativ festgestellt wurde. Automatisch geht da leider nix.
Das ist ja die Krux. Der Bundestag kann auch nur mit dem Präsidium und je einem Abgeordneten pro Fraktion besetzt sein. Wenn niemand von denen die Beschlussfähigkeit aktiv anzweifelt, hat eine Abstimmung genau so viel Gewicht wie bei vollem Haus. Dann können wir uns den Aufwand wirklich sparen.