Freitag trieb es mich geschäftlich nach Berlin. Dabei hatte ich endlich mal wieder Gelegenheit, meine Leidenschaft für den öffentlichen Personennahverkehr mal wieder auszuleben. Nachdem meine Befürchtung eines neuerlichen Bahnstreiks sich bereits Mitte der Woche (Anmerkung 23.06.2018: Wegen des dräuenden EU-Leistungsschutzrechts für Presseverleger und der angeschlossenen LinkTax habe ich den Link zum Artikel nachträglich entfernt.) glücklicherweise aufgelöst hatte, setzte ich mich aus alter Erfahrung mit eher gemischten Gefühlen in den Regionalexpress, der mich zu dem ICE Hamburg-Berlin bringen sollte.
Was mich erwartete, waren die beiden verstörendsten Bahnfahrten meines Lebens, ganz neue, bahnbrechende Erkenntnisse über die Fähigkeit der Menschen ausgerechnet an den ungünstigsten Stellen abrupt stehen zu bleiben, reichlich flüchtige Kontakte zu mittelschwer bis drastisch angetrunkenen Menschen und ein völlig verwirrter Schaffner.
Fangen wir vorne an: Die Fahrt nach Berlin, nein, noch weiter vorne. Die Fahrt nach Hamburg (5.49) begann unspektakulär: Ruhig, viel Platz im Zug und geradezu obszön pünktlich. Dazu etwas, dass ich so auch noch nie oder zumindest schon sehr lange nicht mehr hatte: Eine freundliche, nicht brummelige, fast engagierte Schaffnerin.
Ab Pinneberg dann mal ganz entspannt mindestens 8.000 Pendler, aber alles ganz stressfrei. Pünktlich in Hamburg angekommen, den kurzen Aufenthalt genutzt um „Der Nobelpreis“ von Andreas Eschbach zu erstehen und dann gleich rein in den ICE Richtung Berlin.
Zwischen 7.17 und 8.49 habe ich genau ein mal von Herrn Eschbachs Roman hochgeguckt, als der Schaffner zum abstempeln kam. Schon wieder so obszön pünktlich im Berliner Hauptbahnhof eingelaufen, Tagesticket für die BVG gekauft und auf dem Bahnsteig erst über drei fotografierende Japaner und dann über jemanden, der in seinem Koffer wühlte, gestolpert. Die Fahrt zum Termin verlief auch wieder verstörend: Zum ersten Mal seit Eeeewigkeiten habe ich mich in Berlin mal nicht die falsche S-Bahn oder die falsche Richtung erwischt.
Nach dem Termin hat sich rausgestellt, dass der Arbeitsplatz eines alten Freundes an der gleichen U-Bahn-Haltestelle ist, an der mein Termin war. Schön noch ein Stündchen geplaudert und dann los zum nächsten Termin. Hier das gleiche Spiel: Wieder die richtige U-Bahn, wieder die richtige Richtung – ich war völlig verstört. Auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof, Du errätst es, habe ich mich schon wieder nicht verfahren. Kann mir mal bitte einer verraten, was gestern in der Luft gelegen hat???
Den Hauptbahnhof habe ich ebenso ungewohnt pünktlich verlassen, wie ich ihn morgens erreicht habe (18.18) und mich dann wieder mit Eschbachs „Der Nobelpreis“ beschäftigt. Erst kurz vor Hamburg ist mir aufgefallen, was mir morgens schon gefehlt hat: kreischende Kinder, überlaute Handy-Telefonierer, Junggesellenabschiede, Kegelclubtouren, noch nicht mal Soldaten auf dem Weg ins Wochenende. Ich hab mich direkt ein bisschen erschrocken, als es auf einmal hieß „In wenigen Minuten erreichen wir Hamburg“.
Noch mal kurz Aufenthalt in Hamburg, wo ich hinreißende soziologische Studien betreiben konnte:
Ein kompletter ICE spuckt seine Passagiere auf den Bahnsteig mit der Nummer 5 im Hamburger Hauptbahnhof. Die ersten 70 glücklichen drängeln sich vor der Rolltreppe und versperren so die Treppe für die nicht ganz so fußfaulen, die im Übrigen jeden einzelnen der dort Wartenden um ein vielfaches schneller nach oben befördert hätte. Am Fuße der Treppe, genau an der Ecke, schafft es ein junges Mädchen, eine weitere Menschentraube zu erzeugen. Nur sie und ihr Koffer, ein wahrhaft malerischer Moment.
Stell Dir einen eher schmalen Bahnsteig vor, zwischen ICE und dem Treppengeländer sind zwei, vielleicht drei Meter Platz. Dieses Mädchen hatte ganz offensichtlich in dem Moment, in dem sie diese Stelle erreichte, eine UNGLAUBLICH wichtige Eingebung. Sie musste JETZT SOFORT ihren Koffer abstellen, davor in die Hocke gehen, den Reißverschluss öffnen und im Beisein von ca. 150 wildfremden Menschen Unterwäsche für geschätzt vier Tage (Rosa, Lila und irgendwas schwarzes) kurz durchvertikutieren, um irgendwas suuuuuuper-wichtiges zu suchen. Ob sie es gefunden hat, weiß ich leider nicht, denn ich hatte nur etwas mehr als 20 Minuten Aufenthalt und wollte meinen Anschluss nicht verpassen.
Stattdessen vermied ich die so blockierte Engstelle und nutzte kurz die Örtlichkeiten bei McD. Ich gehe da ja gerne hin. Nicht auf die Örtlichkeiten dort, die sind ja meist eher mittelmäßig. Nein, ich mag die Klientel dort. Junge, aufstrebende Menschen stehen in Trauben in und um den Eingangsbereich des Restaurants und hören sich Musik an, die aus einem Handy dröhnt. Blechern, komplett ohne Bässe. Dabei geht es gerade bei dieser speziellen Musik in der Regel fast ausschließlich um den Bass. Ein Konzept das mir nicht 100%ig klar wird.
Früher hatte man einen Kassettenrekorder dabei, der stand auf dem Boden und dudelte, gelegentlich bewegte man sich einerseits rhythmisch, andererseits nicht übertrieben dazu. Füßewippen ja, tanzen oder irgendwas, das auch nur entfernt dafür gehalten werden konnte, ganz sicher nicht. Diese jungen, aufstrebenden Menschen tun das nicht. Sie hören nur diese komische Musik ohne Bässe und mit blechernem Klang ohne sich zu bewegen. Und in Trauben, das ist wichtig. Immer mindestens vier rund um das Handy, das in die Mitte gehalten wird. Wenn jemand dazu kommt, wird der Kreis auf bis zu sieben erweitert, beim Eintreffen des achten Zuhörers wird eine neue Traube eröffnet, die zwar nur einen Meter entfernt steht, aber etwas ganz anderes hört als die ursprüngliche Traube.
Das sorgt mitunter für einen recht interessanten Klangteppich und, natürlich, für ordentlich Stau. Denn solche Trauben musikhörender, junger, aufstrebender Menschen müssen sich IMMER und ich meine IM-MER in Eingangsbereichen bilden. U-Bahnhof-Ausgänge (am besten einer, der durch eine Baustelle zusätzlich verengt wird!), die Tür vom Restaurant „Zur goldenen Möwe“ etc. pp.
Endlich auf dem Bahnsteig hatte ich eine Erscheinung. Da war ein Mann, der einfach viel zu irre aussah, als dass ich mich nicht dem Vorwurf gegenüber sehen würde, ich hätte mir das nur ausgedacht. Dieser Typ war, und das muss man schlichtweg so sagen, ein echter Pimp: Er hatte die Haare komplett nach hinten gegelt, trug eine dieser Sonnenbrillen, die von dunkellila zu helllila verläuft und einen dünnen Oberlippenbart. Dazu einen rötlichen Anzug, der allerdings von einem braunen Mantel mit Plüschkragen fast verdeckt wurde. Obendrein war der auch noch so unfassbar betrunken, dass es an ein Wunder grenzte, dass er sich auf den Beinen halten konnte. Dieser Typ, dieser un-glaub-liche Typ, schwankt so zielstrebig es ihm eben möglich ist auf mich zu und muss sich dabei mächtig konzentrieren, damit er auch bei mir ankommt. Ich verkneife mir sicherheitshalber ein Grinsen und harre der Dinge, die da kommen.
Der Pimp bleibt etwa anderthalb Meter vor mir stehen und sagt in einem sehr verschwörerischen Ton: „Wo kriegt man hier ein Zimmer? Aber Du weißt schon, die verbotenen Zimmer, die schrägen. Die wo man auch eine Dusche bekommt und Frühstück.“ Aha, auf den Kiez will er also nicht. Ich schicke ihn sicherheitshalber in die Richtung, in der ich die Bahnhofsmission vermute. Da könnte aber auch die Polizeistation gewesen sein, ich bin mir da gerade nicht mehr so sicher. Dusche und Frühstück kriegt man da ja angeblich auch.
Der RegionalExpress nach Kiel jedoch war mein persönliches Highlight des Tages. Obszön pünktlich, das ist eine echte Unsitte, die uns der Bahnstreik gebracht zu haben scheint, und nur leidlich besetzt. Ich saß neben jemandem, den man mit Fug und Recht als „südländischen Typ“ bezeichnen konnte. So’n Macho-Hengst, die ganz coole Nummer. Wenn mich der Seitenblick nicht getäuscht hat, war es trotzdem ein Girlie-Magazin in dem er gelesen hat. Mit der komischen Frau, die mir gegenüber saß, konnte ich mich wegen Herrn Eschbach nicht näher befassen. Außerdem hat die mich ständig so komisch beäugt, dass ich mich nicht getraut habe sie anzugucken. *schauder*
Irgendwo kurz vor Neumünster stiegen dann geschätzt 20 Jugendliche ein, die erkennbar schon ein bisschen vorgezwitschert hatten. „Ah, die Dorfjugend fährt nach Kiel zum Feiern“, dachte ich und gönnte ihnen insgeheim einen schönen Partyabend. Wie groß war meine Überraschung, als die in Neumünster wieder ausstiegen! Wie verzweifelt muss man sein, um zum Feiern nach Neumünster zu fahren?
Kurz nach Neumünster wie bereits erwähnt das Highlight meines Bahnfahr-Tages: Der Schaffner kam, um mich zu kontrollieren, bekam mein Ticket auf dem beide Fahrten des Tages (Kiel-Berlin, Berlin-Kiel) eingetragen waren, stempelte ab und sackte unmittelbar danach seufzend in sich zusammen. „Ach, Scheiße!“, sagte er. Er sei abgerutscht und habe jetzt versehentlich die Rücktour entwertet. Ich war noch dabei zu überlegen, was daran jetzt wohl falsch sein könnte, als er schon auf der Rückseite der Fahrtkarte herumkritzelte. Sekunden später präsentierte der arme Kerl mir stolz wie Oskar sein Werk: „Schauen Sie, ich habe hier `Fahrgast hat die Rückfahrt nicht angetreten‘ notiert, dann weiß der Kollege bescheid, wenn er Sie kontrolliert. Tut mir leid, ist echt Zeit für Feierabend.“ Ich sah ihn an und konnte einfach nicht umhin, zu grinsen: „Bitte entschuldigen Sie, dass ich lache, aber ich BIN doch auf der Rückfahrt.“