Die Anonymität des Alltags

„SIE SIND EIN ARSCHLOCH! EIN RIESENGROßES ARSCHLOCH!“

So stand er vor mir. Schreiend, die Augen aufgerissen, die Miene angriffslustig, aber körpersprachlich doch irgendwie auf dem Rückzug.

Diesem Geschrei war natürlich etwas vorausgegangen. In erster Linie der Satz „ACHTEN SIE MAL GEFÄLLIGST AUF DIE RADFAHRER! SIE ARSCHLOCH!“. Dem wiederum vorausgegangen ist mein Überfahren eines Radweges hinter dem ich meine Fahrgäste aussteigen lassen wollte.

Klar habe ich den Mann und sein Fahrrad übersehen, ich hätte noch gründlicher gucken müssen, ob da jemand kommt. Fakt ist aber, dass ich dadurch keinen Unfall verschuldet habe. Und Fakt ist auch, dass man als Radfahrer immer das schwächste Glied in der Kette der Verkehrsteilnehmer ist und dass man als Radfahrer meines Erachtens damit rechnen muss, übersehen zu werden. Ich zumindest mache das, wenn ich mit dem Rad unterwegs bin.

Niemand hat die Straßen für sich gepachtet und ggf. muss man eben einfach froh sein, dass es keinen Unfall gegeben hat und man noch in der Lage ist, einem wildfremden Menschen „SIE SIND EIN ARSCHLOCH! EIN RIESENGROßES ARSCHLOCH!“ ins Gesicht schreien zu können.

Da reden die Leute immer von der Anonymität des Internets hinter der wir uns angeblich alle verstecken, um wild herumzupöbeln, Leute zu bedrängen, zu beleidigen oder schlimmeres. Passiert alles, aber wir wissen: Anonym ist das Netz sicher nicht. Mit dem entsprechenden Aufwand an Ermittlungsarbeit und auf Vorrat gespeicherten Daten findet man so einen Troll und kann ihn seiner gerechten Bestrafung zuführen.

Aber im Alltag? Dieses arme Würstchen auf seinem Fahrrad verschwand nach seinem Wutausbruch unerkannt. Im Nachhinein könnte ich ihn wahrscheinlich nicht mal besonders gut beschreiben. Was zum einen daran liegt, dass mir solche Leute aus Prinzip völlig egal sind und zum anderen dadurch begründet ist, dass eine schlichte (wenn auch dreifach geäußerte) Beleidigung eine Steckbrieffahndung mit Phantombild nicht rechtfertigt.

Der Mann von heute Vormittag weiß das natürlich. Und er kann aus dieser Anonymität seinen Frust an mir auslassen. Er kann das tun, ohne irgendwelche Konsequenzen fürchten zu müssen. Hätte er vermutlich nicht gemacht, wenn ich statt der Uniform meines Arbeitgebers die Kutte einer überregional bekannten Rockerformation getragen hätte und nicht die Friedfertigkeit in Person wäre.

Tage, an denen Kopfschütteln nicht reicht. Da ist es dann allerdings großartig, wenn sich außer Dir fünf Fahrgäste königlich über diesen Idioten amüsieren. Haben wir gelacht…