Eins vorweg: Ich möchte in diesem Artikel keine Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Bauprojekts, der Proteste oder des Polizeieinsatzes anstoßen oder mich an der Diskussion darüber beteiligen. Um ganz ehrlich zu sein, geht mir die sich daraus entwickelnde Meta-Diskussion über das Leben in einem Polizeistaat und den allgemeinen Untergang der Demokratie ausgesprochen kräftig auf das Skrotum. Nein, in diesem Blogeintrag soll es um etwas anderes gehen, nämlich um die Berichterstattung.
Ich sitze in unserer neuen Wohnung und lese Tweets und Blogeinträge zum Thema Stuttgart 21. Das Bauprojekt und die Demonstration dagegen ist laut Google-Maps ungefähr 627 km von mir entfernt, ich bin also auf Berichterstattung angewiesen. Einerseits, um informiert zu sein, andererseits, um mir eine Meinung bilden zu können. Wie finde ich das denn, was da gerade passiert? Was halte ich davon?
Tatsache ist, dass über Stuttgart 21 schon seit einigen Jahren gestritten wird. Seit vielen Jahren gibt es den Beschluss, den Stuttgarter Hauptbahnhof vom Kopf- zum Durchgangsbahnhof umzubauen. Seit geraumer Zeit gibt es ein öffentlich zugängliches Modell des abgeschlossenen Bauprojekts und erst bei Baubeginn beginnen die Proteste und Demonstrationen. Du wirst möglicherweise verstehen, dass das aus 627 km Entfernung auf’s erste Hören ein wenig, na ja, komisch klingt.
Nun kam es also am Donnerstag zu dem besagten Polizeieinsatz im mittleren Schlosspark. Und schon wurde das Dilemma klar, in dem sich die Medienlandschaft heute befindet: Während die Presseagenturen, die Journalisten und die Fotografen sich noch in Stellung brachten und nach Hintergrundinformationen suchten, um ausgewogen und objektiv berichten zu können, kamen aus dem Park schon die ersten Tweets und Twitpics von Seiten der Demonstranten und schnell wurde der Ruf laut, wo denn die Reporter der Zeitungen blieben, weil die Lage im Park ja schließlich eskaliere.
In allen Tweets, die ich am Donnerstag aus dem Schlosspark gelesen habe, las ich von Polizisten, die auf friedliche Demonstranten losgegangen sein sollen. Ich schreibe das bewusst im Konjunktiv, denn ich war nicht dabei. Und selbst wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich nicht überall gleichzeitig sein können und ich hätte mir nicht so ein differenziertes Bild machen können, wie es offenbar die Schreiber dieser Tweets konnten.
Ich schätze einfach mal wild ins Blaue hinein, dass es möglicherweise die ein oder andere Provokation von Seiten der Demonstranten gegeben haben könnte. Ich zumindest habe bei in meiner Timelime kein Bild von aggressiven Demonstranten gesehen. In einigen „Beweisvideos“ jedoch schon. Da kam es zu Rangeleien mit der Polizei. Es ging eng zu in diesem Video und irgendwann fängt jemand an, an jemand anderem zu zerren. Die Umstehenden verstehen das als Provokation, als Angriff, und beginnen, unter lautstarkem „Ey!“-Rufen, ihrerseits zu zerren und zu schubsen. Das wiederum finden die Kollegen des so gezerrten wieder nicht so lustig und so geht das Spiel immer weiter.
Letztlich war den meisten Videos eines gemein: Bei solchen Rangeleien mit den Polizisten ging es zu wie auf der Autobahn. Es ist voll, man hält wenig Abstand und wenn auf einmal vorne jemand ausschert, geht der Wagen dahinter vielleicht nur vom Gas, der ihm muss schon leicht bremsen und der dahinter noch viel mehr usw. usf. bis einige hundert Meter weiter hinten, die Schlange erst zum Stillstand kommt und es dann knallt, weil irgendwer eben nicht mehr bremsen kann.
Das Bild hinkt an manchen Stellen, aber ich denke, dass der Gedanke klar wird.
Videos von diesen Rangeleien habe ich viele gesehen. Und ja, ich habe auch den kahlköpfigen Polizisten gesehen, der aus der zweiten Reihe großzügig Pfefferspray und Schläge ausgeteilt hat. So einer scheint bei jeder Demo dabei zu sein. Einer dieser Polizisten, die vielleicht besser im Innendienst arbeiten sollten, weil ihr Geduldsfaden so dünn ist. Noch bei jedem Polizeieinsatz, bei dem allgemeiner Unmut über Polizeigewalt hochkocht, sieht man auf sehr vielen Videos immer die gleichen Gesichter von Polizisten, die zuschlagen. Nicht gut. Darf aber auch nicht überbewertet werden, denn wenn ich dieses spezielle Video richtig im Kopf habe, sind an gleicher Stelle auf 25 andere Beamte zu sehen, die nicht zuschlagen.
Tatsächlich habe ich später auch Fotostrecken beispielsweise bei Spiegel Online oder auf dem Facebook-Profil des Stuttgarter Lokalsenders „Die neue 107,7“ gesehen, auf denen sich gutgelaunte, entspannte Polizisten mit ebenso gugelaunten, entspannten Demonstranten unterhielten. Da wurde stellenweise sogar gelächelt.
Was soll ich nun also glauben? Dass alle Polizisten menschenhassende, verkappte Sadisten sind, die Spaß daran haben, wehrlose zu verhauen? Dazu kenne ich zu viele Polizisten, die ich sehr mag, das kann nicht sein. Soll ich vielleicht glauben, dass irgendeine graue Staatsmacht, entsprechende Befehle gegeben hat? Oder dass die Demonstranten wirklich nur friedlich im Park saßen und die Polizei einfach so, ohne Ankündigung und ohne Provokation mit dem Wasserwerfer draufgehalten hat? Mindestens ebenso unwahrscheinlich.
Ich bin im Gegenteil ein bisschen erschüttert, wie manche Sachen zu Polizeigewalt hochstilisiert werden. Ich habe zum Beispiel ein Video gesehen, in dem Leute von einem LKW mit Absperrgittern geholt wurden. Nicht gerade mit Samthandschuhen, das gebe ich zu, aber eben auch nicht ohne vorherige Warnung. Das allerdings passt nur sehr schlecht in die Argumentation der Demonstranten, in deren Worten saßen zwei friedliche Demonstranten auf einem Polizei-LKW und äußerten so friedlich ihren Protest. In diesem Video, von dem ich leider keinen Link habe, werden die Leute, die auf dem Wagen sitzen, mehrfach direkt per Lautsprecher angesprochen und vor den Konsequenzen gewarnt. Und auch der Satz: „Wir werden Sie jetzt da runterholen“ fiel ausdrücklich. Ganz klar der vorletzte Moment, in dem man merkt ‚Okay,jetzt wird es ernst, vielleicht setze ich mich doch lieber woanders hin, auch wenn es hier auf den Gitterzaunelementen auf dem LKW gerade so schön gemütlich ist.‘
Ich finde es, wie erwähnt, sehr schwierig, sich eine differenzierte Meinung zu den Vorgängen im Schlosspark zu bilden. Gerade weil die Berichterstattung dank Twitter & Co. von den Einzelnen vor Ort kommt und nicht mehr von Journalisten, die gelernt haben, Bilder und Äußerungen einzuordnen und ggf. zueinander in Bezug zu setzen.
Der ehemalige Nachrichtenchef des hessischen Privatradios FFH, Norbert Linke, schreibt in seinem Buch „Moderne Radionachrichten“ sinngemäß, dass eine objektive Berichterstattung anhand einer so widersprüchlichen Quellenlage sehr schwierig ist, weil jede Seite „interessengleich“ berichtet.
Ein Beispiel: Heute habe ich einen Link bei Twitter gesehen, in dem sich ein Sanitäter bitter über die Zustände beschwert und in sehr deutlichen Worten die Verantwortlichen bei der Stadt kritisiert:
(..) Es ist bereits eine unerträgliche Schande für eine Demokratie, wenn die Polizei ihre Waffen maßlos gegen friedlich protestierende Bürger einsetzt. Noch viel unwürdiger ist es aber, auch die medizinische Behandlung der Betroffenen mutwillig zu behindern.
Wir warnen sie mit allem Nachdruck vor Maßnahmen jeglicher Art gegen unsere Arbeit. (..)
(Link)
Schwer vorstellbar, dass es dieses Schreiben auch dann auf parkschützer.de geschafft hätte, wenn der Verfasser sich darin nicht dem Vokabular der Demonstranten bedient hätte und sich nicht gegen die Anweisungen der Stadt gestellt hätte.
Twitter und Blogs sind tolle Sachen, mit denen man schnell eine Öffentlichkeit zu einem offenkundig so wichtigen Thema wie Stuttgart 21 schaffen kann. Allerdings, und das muss auch gesagt werden dürfen, bleibt dabei die Ausgewogenheit der Berichterstattung auf der Strecke. Demonstranten sind immer friedlich, die Polizisten sind immer die bösen.
Ich weiß nicht, was da los war in Stuttgart. Ich war nicht da. Aber ich möchte mich nicht auf Geschreibsel wie dieses verlassen müssen, wenn ich mir eine Meinung bilden soll, denn gerade in so unübersichtlichen Gemengelagen muss immer dieser journalistische Grundsatz gelten:
„Mach dich nie mit einer Sache gemein, auch nicht mit einer guten.“
(Ex-Tagesthemen-Moderator Hajo Friedrichs †)
(Anmerkung 23.06.2018: Wegen des dräuenden EU-Leistungsschutzrechts für Presseverleger und der angeschlossenen LinkTax habe ich die Links zu Zeitungsartikeln nachträglich entfernt.)