Das heutige Essperiment ist ein Nostalgisches. Wir begeben uns zurück in den Sommer des Jahres 2000. Ich war gerade mit dem Abitur durch und hatte vor wenigen Wochen bei der Bundeswehr eingecheckt, um meinen Wehrdienst ebenso zügig wie geräuschlos hinter mich zu bringen. Bestandteil der in jenem Sommer stattfindenden Grundausbildung war auch ein dreitägiges Biwak auf dem örtlichen Standortübungsplatz, kurz StOÜPl. Wir hatten also zu zelten, Feuer zu machen, durch Matsch zu kriechen und im Wesentlichen nicht das Vertrauen in die Kampfstärke der Bundeswehr zu verlieren, was bei mir – wie Sie wissen – nur sehr bedingt klappte. Bestandteil dieses Biwaks wiederum war, sich eben exakt so zu verhalten, wie wir das auch im so genannten V-Fall tun würden. Im Verteidigungsfall, denn wie uns damals (trotz Kosovo-Einsatz) ausführlich erläutert wurde, darf die Bundesrepublik per Grundgesetz keinen Angriffskrieg führen, Krieg mit deutscher Beteiligung musste nach damaliger Argumentation also ein Verteidigungskrieg sein und weil man damals das Wort „militärischer Konflikt“ noch nicht kannte, nannte man die Nummer also V-Fall. Klingt ja auch besser.
Aber ich schweife ab.
Da wir uns also so zu verhalten hatten, wie im V-Fall, hatten wir uns auch so zu ernähren. Am ersten Tag gab es ein sogenanntes EPA, ein Ein-Mann-Paket, das die komplette Verpflegungsration für einen Mann und einen Tag darstellte. Reste davon habe ich kürzlich in einem alten Umzugskarton gefunden und die werden heute verkostet.
Über EPA gab es die wildesten Geschichten. Die wildeste resultierte aus der Tatsache, dass die Artikel in den EPAs alle nur ein Herstellungs- aber kein Verfallsdatum trugen. Folgerichtig wurde unter uns Rekruten die Mär erzählt, dass das Essen vollgestopft sei mit nicht ausgewiesenen Konservierungsstoffen. So sehr vollgestopft, dass es eine geheime Dienstanweisung geben soll, die vorschreibt, dass die Leiche eines Soldaten, der sich mehr als eine Woche lang von EPA ernährt hat und unmittelbar danach im Rahmen eines militärischen Konflikts des V-Falls zu Tode kommt, als Sondermüll verbrannt werden müsse. Geschichten.
In so einem EPA sind laut Beipackzettel 2x 300g Fertiggericht, 2x 125g Keks/Kräcker, 3x 50g Brotbelag, 150g Zwischenmahlzeit, 2x 25g Konfitüre, 2x 3,5g Kaffee-Extrakt, 2x 1,2g Tee-Extrakt, 4x 12,5g Zucker, 2x 3g Zucker, 3g Salz, 2x 30 Fruchtgetränkepulver, 50g Schokolade, 12 Dragees Kaugummi, ein Erfrischungstuch, 1 wasserdicht verpacktes Streichholzbriefchen, 4 Blatt Mehrzweckpapier und 8 Chlortabletten zur Wasseraufbereitung.
Übrig sind davon neben Fruchtgetränkepulver, Zucker, Salz, Kaugummi, Wurst, Streichkäse, Konfitüre, Kaffee, Tee und Kaffeeweißer bei diesem speziellen EPA auch noch eines der Fertiggerichte und die Schokolade. Zum Mittag gibt es heute also einen Linseneintopf mit Würstchen, dazu ein leckeres Glas „Fantasie Getränkepulver Typ Orange“ und anschließend etwas Schokolade. Alles Herstellungsdatum 1998.
Laut Beipackzettel verlieren die Fertiggerichte nicht an Geschmack oder Nährwert, wenn man sie kalt isst. Ich konnte mir gerade noch einen Rest Würde bewahren und erwärmte das verbeulte Stück Aluminium im Wasserbad. Appetitlicher hätte ich mir das Ergebnis kaum vorstellen können:
Große Überraschung: So abschreckend das Fertiggericht aussieht, so lecker schmeckte es auch. Natürlich gab es auch dafür eine Urban Legend zu meiner Zeit in grün. Bei besonders alten EPAs sollten nämlich die meisten Konservierungsstoffe schon verflogen sein, was das Essen einigermaßen erträglich machen sollte. Geschichten.
Der Geschmack passte jedenfalls; so soll ein Linseneintopf schmecken. Wenn schon nicht von Mutti, dann doch wenigstens so wie an der Tankstelle oder in der Mensa. Die Würstchen waren würzig und hatten eine angenehme Konsistenz, die Linsen und das restliche Gemüse war jetzt keine Sensation, aber das erwartet im V-Fall wahrscheinlich auch niemand.
Als Getränk zum Hauptgang empfiehlt der Küchenchef nun also das Fertiggetränkepulver. Grapefruit spare ich mir für einen ganz besonderen Anlass auf, heute gehen wir auf Nummer sicher mit Typ: Orange. Einfach in 250 ml frisches Wasser einrühren und fertig ist der Lack.
Und so schmeckt die Brühe dann anschließend auch, nach Lack. Nachdem das Pulver in der Tüte nicht verklumpt war und sich fluffig ins Glas ergoss, soll das wohl so sein und vielleicht ist das für den abgekämpften Soldaten ím V-Fall auch genau das Richtige. Für den verwöhnten Kleinstadt-Gaumen in Friedenszeiten jedenfalls ist das nichts, das Zeug schmeckt chemisch, kaum nach Orange und viel zu süß.
Bleibt also nur noch das Dessert. Schokolade. Nach Großmutters Originalrezept bestehend aus Zucker, Kakaomasse, Kakaobutter, Lecithinen als Emulgator und „Aroma (Acethylvanillin)“ – ja, die Anführungszeichen sind auch auf der Packung. Selbstverständlich gibt es auch dazu eine Geschichte. Unter den Rekruten ging nämlich das Gerücht um, dass man sich mit dem zügigen Verzehr einer dieser Tafeln mit einem Mindestkakaoanteil von 45% über die gesamte Zeit des Biwaks hinweg den Gang auf das furchtbar eklige Dixieklo ersparen könne. Meine Erinnerung daran ist etwas getrübt, aber vermutlich ging es auch ohne kakaohaltiges Hilfsmittel.
Diese spezielle Tafel Schokolade jedenfalls hat die lange Lagerung nicht ganz so einwandfrei überstanden, wie es dem Hauptgang vergönnt war:
Auf dem Foto ist es zumindest ein bisschen zu sehen: Die Schokolade ist sehr blass geworden. Die Bruchkanten kommen auf dem Bild nicht so gut heraus, da kann man die ursprüngliche Farbe von 1998 zumindest noch erahnen. Hart geworden ist sie auch, aber von ihrer Schokoladigkeit hat das gute Stück rein gar nichts eingebüßt.
Nachdem die Lagerung dieses EPA-Teils jetzt so gut geklappt hat, werde ich die Wurst-, Konfitüre- und Streichkäsebestandteile später verkosten.
Ein sehr, sehr schöner Selbstversuch.
Ich habe bis 1980 „gedient“ und hoffe doch, dass aus der Zeit kein EPA mehr da ist. Die Gerüchte aus deiner Zeit dazu waren mir übrigens alle neu.
Hier also noch ein, zwei Ergänzungen von nochmal 20 Jahren zuvor: Das Orangen oder Grapefruit-Pulver war schon damals fürchterlich, aber konne mit viel Rum in einen erträglichen Longdrink verwandelt werden, der weder nach fiesem Rum, noch nach Ascorbinsäure, sondern, wie gesagt, erträglich schmeckte und sehr schwindlig macht. Die Keks/Kräcker hießen damals Hartkekse. Und das waren sie. Man konnte stundenlang draufrumnuckeln.
Was ich in deinem Paket vermisst habe, war der Tubenkäse – das war eine Art Schmelzsalzpaste, manchmal auch mit klitzekleinen (wohl Speck-oder Schinken-) Würfeln angereichert.
Du siehst, beim Lesen Deines Textes kam bei mir vieles wieder hoch. Danke dafür.
Mein Gott, wieso ist bei uns niemand auf die Longdrink-Idee gekommen? Das ist ja brilliant! Kekse/Kräcker ist auch nur die Bezeichnung des Beipackzettels, wir nannten die Panzerkekse. Schmelzkäse ist ansonsten integraler Bestandteil des nächsten Essperiments, zusammen mit Schmalzfleisch und Bierwurst. Allein bei dem Gedanken daran kommt bei mir einiges hoch…
Mein Gott, wieso ist bei uns niemand auf die Longdrink-Idee gekommen? Das ist ja brilliant! Kekse/Kräcker ist auch nur die Bezeichnung des Beipackzettels, wir nannten die Panzerkekse. Schmelzkäse ist ansonsten integraler Bestandteil des nächsten Essperiments, zusammen mit Schmalzfleisch und Bierwurst. Allein bei dem Gedanken daran kommt bei mir einiges hoch…