Herr Buddenbohm guckt im öffentlichen Personennahverkehr gerne mal hoch. Beim Hochgucken kommt es darauf an, den Blick vom Smartphone zu heben, sich gleichsam zu öffnen für den Mikrokosmos ÖPNV, der sich hinter dem Display und den Kopfhörern verbirgt; jenen Blick danach über die Mitreisenden schweifen zu lassen und zu gucken, wie diese Menschen so sind. Denn wenn man genau hinsieht und aufpasst wie ein Lachs, sich auf ein oder zwei von denen konzentriert, dann fällt einem dieses abstoßend Lästige, das Bräsige kaum noch auf, das unbekannte Menschen häufig ausstrahlen. Ich vermeide das gern, denn ich möchte mich von meiner dumpfen, brütenden Misanthropie nur ungern ablenken lassen. Heute jedoch habe ich im Regionalexpress kurz vor Gießen durch Zufall hochgeguckt und hatte sofort so einen inspirierenden Moment, ich musste sofort an das Buddenbohm’sche Hochgucken denken.
Ich sitze auf einem dieser Notsitze nahe der Tür, da wo man sein Fahrrad anbinden kann, wenn man eines dabei hat. Mir gegenüber sitzt der Prototyp eines alten Mannes: Ihr Würde ergraut, faltiges Gesicht, Altersflecken auf den Händen, passend zur beigefarbenen Hose trägt er eine beigefarbene Weste über einem gestreiften Hemd. Zwischen den Füßen steht einen Baumwolltragetasche, die aussieht, als sei sie mehrfach gewaschen und danach sorgfältig gebügelt worden. Was drin ist, kann ich nicht sehen, aber es scheint wichtig zu sein, denn die Träger der Tasche hält er mit den im Schoß gefalteten Händen fest, damit sie nicht umfällt. Hinter dem, was früher einmal „Kassengestell“ hieß, schauen zwei braune Augen versonnen auf den Hintern der Schaffnerin, die bei einem kurzen Halt zwischen uns hindurch hastet, damit sie auf dem Bahnsteig tun kann, was Schaffner dort tun.
Eine junge Muslima kommt dazu, sehr schlank, bodenlanger grauer Mantel und ein sehr großes Kopftuch. Sie fragt, ob bei dem Alten noch ein Platz frei ist. Er nickt, sie setzt sich und beschäftigt sich mit ihrem Smartphone. Obwohl zwischen den beiden ein Sitz ungenutzt hochgeklappt bleibt, scheint ihm die Situation unangenehm zu sein: Er guckt starr geradeaus und sitzt gerader, angespannter als vorher. Sie bemerkt ihn nicht, tippt lange auf ihrem Smartphone und lächelt die Art Lächeln, das man nur sehr lieben Menschen schenkt. Das Lächeln, das man nur beim Hochgucken sehen kann, wenn alle anderen im Zug ihre Scheuklappen auspacken und sich unbeobachtet fühlen.
Sie tippt und lächelt noch bis zum nächsten Halt, Gießen, wo wir alle aussteigen müssen. Als sie ihr Smartphone einsteckt erlischt auch das Lächeln und macht Platz für etwas anderes, maskenartiges. Sie ist wieder in diesem „Draußen“, da wird weniger gelächelt.
Während ich darüber noch nachsinne, sehe ich den Alten von vorhin wieder. Er trifft auf dem Bahnsteig einen Freund und sie begrüßen sich mit einer herzlichen Distanziertheit, falls das ein Wort ist. Sein Freund trägt zu seinem gestreiften Hemd eine kurze Kunstlederhose, die hinten schon so ein bisschen in die Kimme gerutscht ist, und mir wird klar, dass Scheuklappen nicht immer schlecht sind und dass hochgucken nicht immer erstrebenswert ist.
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